Wie aus Geschichten Geschichte wird – historiographische Texte als methodische Herausforderung für Regestenprojekte

Wie aus Geschichten Geschichte wird – historiographische Texte als methodische Herausforderung für Regestenprojekte

Organizer(s)
Christina Abel / Miriam Weiss, Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz / Regesta Imperii, Arbeitsstelle Saarbrücken; Michel Margue, Universität Luxemburg
Location
Mainz
Country
Germany
Took place
In Attendance
From - Until
01.03.2023 - 03.03.2023
By
Dunja Dvorzak, Regesta Imperii, Akademie der Wissenschaften und Literatur Mainz

Das Forschungsprojekt Regesta Imperii (RI) hat sich zum Ziel gesetzt, „sämtliche urkundlich und historiographisch belegten Aktivitäten der römisch-deutschen Könige und Kaiser“ zu verzeichnen. Vor welche methodischen Herausforderungen der narrative turn in den Kultur- und Literaturwissenschaften Historiker:innen bei der Erarbeitung von Regesten aus historiographischer Überlieferung stellt, war Gegenstand dieser Tagung. Unter der Leitung von Christina Abel, Michel Margue und Miriam Weiss wurde drei Tage lang über (Re-)Konstruktion von Geschichte(n) und den Umgang mit historiographischen Regesten debattiert.

Eine Einführung in die Problematik gab MIRIAM WEISS (Saarbrücken/Mainz), die im Zuge ihrer Arbeit am Heinrich VII.-Projekt der RI selbst historiographische Regesten verfasst. Der narrative turn habe das Bewusstsein für das Ausmaß geschärft, in dem „Texte“ Einfluss auf die Konstruktion von Wirklichkeit haben. Aussageabsicht, angedachte Adressaten sowie die jeweiligen Vorstellungswelten beeinflussen maßgeblich, welche Narrative und Topoi in einer bestimmten Erzählung verwendet werden. Dies werfe Fragen auf zu den Grenzen des Regestierens auf der Basis einer solch „konstruierten“ Vergangenheit.

Die erste Sektion der Tagung beschäftigte sich mit theoretischen Zugängen zu historiographischen Quellen. Einen potenziellen Lösungsansatz aus der Narratologie bot SEBASTIAN SCHOLZ (Zürich) mit einem Vortrag über Strategien von Erinnern und Vergessen in historiographischen Prologen. Eine komparative Analyse der Prologe zur „Vita Caroli Magni“ des Einhard, der Chroniken des Regino von Prüm, Thietmars von Merseburg und Johannes Vitodurans, der „Gesta Hammaburgensis“ des Adam von Bremen sowie zum „Catalogus praesulum Laureacensium et Pataviensium“ des Thomas Ebendorfer zeigte einen differenzierten Umgang der Historiographen mit „bewusstem Vergessen“, also mit Lücken in der eigenen Überlieferung. Allen Autoren war der Anspruch gemeinsam, „Wahrheit“ vermitteln zu wollen und Vergangenes vor dem Vergessen zu bewahren. Aus der Analyse der Prologe ergaben sich jedoch unterschiedliche Herangehensweisen bezüglich der Frage, welches Vergangene warum vor dem Vergessen bewahrt werden sollte – gerade die Einsicht in die Denkweise der Historiographen, die diese Lücken geben, könnte für Regestenverfasser:innen potenziellen Erkenntnisgewinn liefern.

Ebenfalls literaturwissenschaftliche Methoden wandte MARTIN CLAUSS (Chemnitz) an, indem er die narrative Transformation als Erkenntnisvehikel zur Analyse mittelalterlicher Historiographie vorstellte. Dieses Konzept der Textgenese von genotypischen Prozessen (Selektion des Geschehenen zur „Geschichte“, Komposition der „Geschichte“ zur Erzählung) hin zu phänotypischen Prozessen (Verbalisierung und Präsentation der Erzählung) wandte Clauss auf die Geschichtswissenschaft an, indem er den obengenannten autorimmanenten Elementen die autorunabhängige „Wirklichkeit“ voranstellte. Die historiographische Quelle als „Präsentation der Erzählung“ wäre demnach eine Basis für das Verfassen eines historiographischen Regestes. Unabsichtliche Verformungen oder Verfälschungen könnten an jedem Punkt zwischen „Wirklichkeit“, Autorenwissen um das Geschehen und „Geschichte“ auftreten. Anhand eines Berichtes zum Streit König Friedrich des Schönen zur Schlacht von Mühldorf 1322 konnte Clauss aufzeigen, wie Erwartungshaltung und Wirkungsabsicht in der Kommunikation zwischen Historiographen und erwünschten Adressaten zu selektiven und additiven Prozessen führen können.

Im ersten von zwei Abendvorträgen beschäftigte sich HANS-WERNER GOETZ (Hamburg) mit „Zugriffen auf Geschichte(n)“ und dem Umgang der Geschichtswissenschaft mit historiographischen Quellen des frühen und hohen Mittelalters. Dem Thema näherte er sich über die Entwicklungslinien moderner Mediävistik und über die Kontextualisierung der Historiographie innerhalb mittelalterlicher Vorstellungswelten. Den turn der deutschsprachigen Historiographiegeschichte von rein politischer Geschichtsschreibung und rigidem Gattungsschema hin zu vielfältigen Strukturanalysen veranschaulichte er beispielhaft anhand paläographischer und kodikologischer Ansätze neuerer Forschung. Zur Fokussierung auf Originalität und Glaubwürdigkeit käme die Frage nach dem „Warum?“ – auch Verformungen können Aufschluss geben über Motive und Vorstellungswelt der Beteiligten.
Historiographiegeschichte könne über strukturelle Einordnung in die Ideengeschichte des Mittelalters sowie über „persönliche“ Analyse der bewussten Tendenzen und unbewussten Wahrnehmungen der Autoren zu einem tiefergehenden Verständnis der Quellenwerke führen – und bliebe so auch diesseits der linguistic und narrative turns ein Faktenlieferant. Die Komplexität dieser Fakten bedinge allerdings, so Goetz, eine Ganzheitlichkeit der Ansätze für das Verfassen historiographischer Regesten.

Die zweite Sektion widmete sich der praktischen Arbeit an und dem Umgang mit historiographischen Regesten. Wie man mit Tendenziösität in der Praxis umgehen könnte, zeigte YANNICK STRAUCH (Marburg), Mitarbeiter beim RI-Projekt zur Karolingerzeit, anhand der historiographischen Hauptquellen zur Schlacht von Andernach am 8. Oktober 876 auf. Je nach Positionierung gelangten die Historiographen der Annalen von Fulda, von Saint-Bertin und von Saint-Vaast und der Verfasser einer im September 876 kurz vor der Schlacht ausgestellten Urkunde zu ganz unterschiedlichen Aussagen zur Motivation und Person Karls des Kahlen. Zumindest für das verhältnismäßig quellenarme Frühmittelalter wäre es, so Strauch, möglich, unterschiedliche historiographische Perspektiven mit genauen Quellenangaben direkt in den Regestentext einfließen zu lassen.

Einen anderen Ansatz aus den Papstregesten Leos III. stellte VERONIKA UNGER (Erlangen) vor. Im Kontext zweier Reisen des Papstes ins Frankenreich 799 und 804/805 zeigen sich Grundproblematiken: An Quellen mangele es nicht, aber viele, vor allem hagiographische, Werke seien nicht zeitnah und gingen inhaltlich über das hinaus, was zeitgenössischere Quellen vermitteln. Manche Stationen oder Tätigkeiten Leos seien geographisch und/oder zeitlich so schwer zuzuordnen. Neben dem „Wann“ und „Wo“ gäbe es auch Probleme bezüglich des „Warum“: Über Reisen wurde oft in tendenziösen historiographischen Werken berichtet, was Aussagen über mögliche Reisegründe erschwere. Die Verfasser:innen der Papstregesten Leos III. haben sich dafür entschieden, Widersprüche, Unklarheiten, etwaige Fälschungen oder Interpolationen zwecks Erkenntnisgewinn aufzunehmen, aber klar zu markieren. Potenzielle Probleme ergäben sich jedoch aus dem Positivismus solcher Vorauswahl und der Überlänge von Kommentaren zu solch komplexen Sachverhalten.

JÖRG MÜLLER (Trier) gab einen Einblick in die Arbeitsweise und Herausforderungen eines etablierten Projekts, dem „Corpus der Quellen zur Geschichte der Juden im spätmittelalterlichen Reich“ (1273-1519). Historiographische Werke als wichtige Quellenbasis bedürften besonders bei dieser Thematik vorsichtiger Aufbereitung, auch weil die wenigen erhaltenen hebräischen Quellen mit historischem Informationsgehalt auf Gattungen wie Klagelieder oder Memorbücher beschränkt seien. So verwende der Corpus bei der Regestierung zwei Systeme, sowohl bei der Einordung (Fußnoten unter dem Regestentext und ausführliche Kommentare) als auch bei der Verlinkung (im Überlieferungs- und im Kommentarteil). Dies ermögliche nicht nur den Verweis auf externe Literatur- und Quellensammlungen, sondern fördere prosopographische Arbeit und Quellenvergleich innerhalb des Corpus. Die Kommentar- und Verlinkungssysteme erleichtern den Umgang mit den Grundproblematiken historiographischer Quellen: Tendenziösität, zeitliche Eingrenzung sowie die Möglichkeit, potenzielle Zitate aus derselben Quelle oder Fälschungen aufzuzeigen.

Zum Abschluss der zweiten Sektion teilte MANUEL KAMENZIN (Bochum) Perspektiven auf das Regestieren narrativer Quellen zu Herrschertoden. Im Vergleich von Schilderungen zum Ableben Friedrich Barbarossas, Friedrichs II. sowie Philipps II. arbeitete er die Unterschiede zwischen Topoi und Geschichten auf der einen und Diagnosen und Geschichte auf der anderen Seite heraus. Der „Herzinfarkt“ Barbarossas bei einer Flussüberquerung könne zum Beispiel auf mittelalterliche Vorstellungen zur Gefährlichkeit von Kaltwasser an warmen Tagen zurückgeführt werden, die fiebrige Darmentzündung Friedrichs II. auf den Topos des schlechten Todes. Potenziell lohnend könnte der Einbezug materieller Überreste sein – so zeige der (intakte) Schädel Phillips II., dass Berichte über die Spaltung seines Hauptes zur Unterstreichung der Gewaltsamkeit seines Endes dienten. Kamenzin plädierte für eine umfassende Aufarbeitung narrativer Quellen im Kommentarteil der Regesten, die die Vielfalt mittelalterlicher Vorstellungswelten, Narrative und Topoi mit einbeziehe.

Die dritte Sektion befasste sich mit den potenziellen Auswirkungen eines möglichen neuen Ansatzes zu historiographischen Regesten und wurde von YANNICK PULTAR (Mainz) eröffnet. An einem Beispielset aus Daten zu den Regesten Heinrichs VII. zeigte er Möglichkeiten von Informationsmodellierung und Informationsextraktion auf sowie die verschiedenen Arten der Klassifizierung und Attribuierung, auf denen diese basieren können. Klassifiziert werden könnten Regestentypen (Urkunden- und Ereignisregesten) oder Regesteninhalte. Datensätze, zum Beispiel zu Personen, Editionen, Orten, Qualifizierung und Quantifizierung der Quellen, könnten dabei aus allen Regestenteilen generiert werden; hierbei sei allerdings eine allgemeine Ontologie der Regestentexte zwecks Maschinenlesbarkeit förderlich. Ein großes Potenzial zur Erfassung historiographischer Quellen biete der Kommentarteil: Verweise könnten nicht nur im Regestentext selbst verlinkt, sondern auch in die Suchfunktion integriert werden – und somit die Erfassung spezifischer historiographischer Quellen erleichtern. Eine solche Modellierung, so Pultars Fazit, sei nicht nur umsetzbar, sondern auch lohnend: sowohl für die Nachhaltigkeit der Daten als auch für die Nachnutzbarkeit, nicht nur für Historiker:innen, sondern auch für Studierende und interessierte Laien.

ANDREAS KUCZERA (Gießen) referierte auf der Grundlage eines Datenkorpus zu den Regesten Heinrichs IV. über die Regestenmodellierung anhand von Labeled Property Graphs. Das Hauptaugenmerk lag auf Möglichkeiten zur Unterscheidung historiographischer Regesten von Urkundenregesten, via layoutbasierter sowie musterbasierter Merkmale. Die zum Teil schon digitalisierten Register mancher RI-Teilprojekte böten beispielweise die Möglichkeit der Suche nach Empfängern im Regestentext oder nach Personen oder Orten im Überlieferungsteil. In historiographischen Regesten seien diese im Regestentext ohne, im Überlieferungsteil mit Sperrdruck erfasst – ein möglicher Ansatz zur Identifizierung. Zudem könne in Zitationsnetzwerken nach bestimmten Verweismustern gefiltert und diese visualisiert werden. Allen gegenwärtigen Ansätzen gemeinsam sei allerdings die Inkonsistenz in den Daten: Abgesehen von einer Überarbeitung der Datensätze könnte eine Kombination der genannten Methoden für die umfassende Identifizierung historiographischer Regesten zielführend sein.

Um eine mögliche Kombination von Auto-Instrumentation und Geschichtswissenschaft ging es JURI OPITZ (Heidelberg). Geschichtsschreibung könne als Instrument der Näherung an die historische Wahrheit betrachtet werden; aus der Unvollkommenheit dieses Instruments entstünde etwas, das dem mathematischen Konzept des Näherungsfehlers nahekomme – und so quantifizierbar sei. Selbst wenn eine Quelle als bloße Ereigniszusammenfassung betrachtet werde, könnten bei Perzeption, Textproduktion und (un-)bewusster Selektion durch den Historiographen sowie durch die Selektion seitens der Regestenverfasser:innen Fehler entstehen. Automatic summarization systems erfassten solch qualitative Aspekte durch Herunterbrechen und anschließende Analyse der Aussagen des Regestentexts in grundlegende Satzblöcke, sogenannte summary content units (SCUs). Computermethoden könnten die entstehenden Datensätze optimieren, größere Zusammenhänge visualisieren oder Aussagen treffen zu Übereinstimmungen, Ausreißern oder fehlenden Informationen. Menschliche (Näherungs-)Fehler könnten aufgezeigt und die Relevanz bestimmter Inhalte durch Übereistimmungen in SCUs hervorgehoben werden – Methoden der Auto-Instrumentation könnten sich so als nützliches Werkzeug des Historikers etablieren.

Im zweiten Abendvortrag widmete sich GERHARD LUBICH (Bochum) den Konsequenzen einer Neuverhandlung des Umgangs mit historiographischen Regesten. Im Zuge der diversen, sozial- und kulturwissenschaftlichen turns habe sich die Erkenntnis über die sub- und intertextuelle Komplexität narrativer Quellen durchgesetzt – die „postmoderne Herausforderung“. Lubich gab einen Überblick über die Antworten der Geschichtswissenschaften auf diese Herausforderung – von der klassischen Quellenkritik, der Auseinandersetzung mit mittelalterlichen Vorstellungswelten, der causa scribendi oder Verformungsprozessen hin zur Analyse kommunikativer Wechselbeziehungen zwischen Autor und Adressat. Für die Regesta Imperii postulierte er einen Paradigmenwechsel: Statt auf Konsensregesten mit Anspruch auf Vollständigkeit und Klarheit sollte der Fokus gelegt werden auf extensive Kommentarteile als „Ort wissenschaftlicher Redlichkeit“, der Informationen zu Topoi, Forschungstand und der Einbettung in aktuelle Diskurse biete. Der neue Anspruch sollte auf die Nachnutzbarkeit und umfassende Datenaufbereitung zielen, Regesten eine Grundlage bieten für das Verständnis der relevanten Narrative – an die Stelle der res gesta trete die narratio rerum gestarum.

Zu Beginn der letzten Sektion vollzog MICHEL MARGUE (Luxemburg) einen Perspektivenwechsel, indem er am Beispiel einiger „Vogelgelübde“ die Möglichkeiten der Regestierung literarischer Quellen im Spannungsfeld zwischen Faktum und Konstrukt untersuchte. Sowohl die vœux sur un oiseau als auch die in Nordfrankreich etwa zeitgleich populäre Gattung des Streitduells in dichterischer Form, das jeu parti, könnten in ihrem Bezug auf reale Ereignisse und Personen regestenrelevante, politische Informationen transportieren – allerdings unter Vorbehalt und mit Einbezug literarischer Topoi. Mögliche Ansätze zur Aufnahme dieser Topoi in Regesten wären die Aufarbeitung ahistorischer Aspekte allein im Kommentar, eine kultur- und literaturwissenschaftliche Analyse der Quelle im Regestentext oder eine Synthese aus beiden Ansätzen mit knappem inhaltlichen sowie kulturwissenschaftlichen Überblick im Regest und ausführlicher Analyse im Kommentarteil. Auch Margue plädierte für eine Neujustierung der Regestenfunktion hin zur ganzheitlichen Aufbereitung von Quellen mit Fokus auf den Mehrwert für Nutzer:innen.

Auf die Komplexität moderner Urkundenregesten ging CHRISTINA ABEL (Saarbrücken/Mainz) ein. Mit zunehmendem Bewusstsein für die Grenzen der „Objektivität“ von Urkunden als Quellengattung hätten Urkundenregesten den Anspruch entwickelt, neben Rechtsakten auch Angaben zu Personen, Orten, Begrifflichkeiten, Wertevorstellungen und rituellen Handlungen zu erfassen. Welche Probleme sich hier ergeben können, zeige das Beispiel beglaubigter Abschriften dreier Urkunden Heinrichs VII. aus dem Mai 131. Unter Einbezug weiterer Quellen veranschaulichte Abel, welchen Einfluss unterschiedliche Erwartungshaltungen und Wahrnehmungen der Notare auf die Selektion des Überlieferten übten. Je nach Quellenbasis könne man im gegebenen Fall zwei bis vier Regesten verfassen, mit zwei bis sieben Anwesenden, zwei konkurrierenden Tagesdaten und stark auseinandergehenden Zeremoniellbeschreibungen. Gerade also die Elemente, die das moderne Urkundenregest ausmachen, seien mit größter Komplexität verbunden. Es werde deutlich, dass Nutzer:innen an Urkundenregesten die gleiche methodische Analysearbeit vornehmen müssten wie an historiographischen Regesten.

Im letzten Beitrag gaben ANTOINE LAZZARI (Luxemburg) und MIRIAM WEISS (Saarbrücken/Mainz) Denkanstöße zu Grenzfällen zwischen historiographischem Regest und Urkundenregest. In Chroniken überlieferte Urkunden bedürften als transgressive Sonderfälle ausführlicherer Analyse. In seinen „Chroniken“ habe der Metzer Patrizier Jacques Dex auf vielfältige Art und Weise Urkundeninhalte übernommen und dabei teilweise kurze, regestenähnliche Zusammenfassungen erstellt. Diese „Protoregesten“ können in drei Kategorien eingeteilt werden: „Kopfregesten“ zur Einleitung eines Urkundentexts; in den erzählenden Text eingebaute Zusammenfassungen des Rechtsakts; und eine ausgeschmückte, in Wortwahl dem Originaldokument nahe, (Nach-)Erzählung, die die Gattungsgrenzen gänzlich verwische. Hier zeige sich das Dilemma der Regestenverfasser:innen: Verfasse man hier ein Urkundenregest oder ein historiographisches Regest? Welche methodische Herangehensweise müssten Verfasser:innen wählen, welche Schlüsse zu Wahrheitsgehalt der historiographischen und diplomatischen Versatzstücke ziehen? Und sind solche rigiden Trennungen nach Regesten- und Quellenart noch zeitgemäß?

In der Abschlussdiskussion wagten sich die Tagungsteilnehmer:innen an eine Synthese der aufgeworfenen Fragestellungen und Antwortansätze. Das Bewusstsein für die Komplexität historiographischer Quellen und den Charakter des Regests als Hilfsmittel und Vermittler von Wissenskomplexen müsse bei Nutzer:innen geschärft werden. Aber auch Regestenverfasser:innen müssten sich umorientieren, hin zum Regestieren als Service, unter Kriterien der Nutz-, Les- und Auswertbarkeit. Gerade in der Darstellung historiographischer und historischer Komplexität innerhalb von Regesten könne so Erkenntnis gewonnen werden – sofern sich beide Seiten auf diese Komplexität einlassen.

Konferenzübersicht:

Christina Abel (Saarbrücken/Mainz), Michel Margue (Luxemburg) und Miriam Weiss (Saarbrücken/Mainz): Begrüßung und Einführung

Sektion I: Die Theorie
Moderation: Jörg Rogge

Sebastian Scholz (Zürich): Strategien von Erinnern und Vergessen in historiographischen Prologen

Martin Clauss (Chemnitz): Narrative Transformation als Erkenntnisvehikel zur Analyse mittelalterlicher Historiographie

Abendvortrag
Moderation: Michel Margue

Hans-Werner Getz (Hamburg): Zugriffe auf Geschiche(n). Überlegungen zum Umgang der Geschichtswissenschaft mit historiographischen Quellen des frühen und hohen Mittelalters

Sektion II: Die Praxis
Moderation: Irmgard Fees

Yanick Strauch (Marburg): Die Schlacht von Andernach am 8. Oktober 876 im Spiegel der zeitgenössischen Historiographie

Veronika Unger (Erlangen): Leo III. überall: Die Reisen des Papstes ins Frankenreich 799 und 804/805 in der Historiographie von der Karolingerzeit bis zum Ende des Mittelalters

Jörg Müller (Trier): Die Regestierung historiographischer Quellen zur jüdischen Geschichte des spätmittelalterlichen Reiches auf >Medieval Ashkenas.org<. Methoden – Herausforderungen – Perspektiven

Manuel Kamenzin (Bochum): Wie aus Geschichten Diagnosen wurden. Von Herrschertoden, historiographischen Quellen und Regesten

Sektion III: Die Auswirkungen
Moderation: Steffen Krieb

Yannick Pultar (Mainz): Herausforderungen der Modellierung und Einbindung historiographischer Regesten

Andreas Kuczera (Gießen): Regesten in graphbasierten Modellierungen

Juri Opitz (Heidelberg): Approximating history and historical approximation error from and through instruments

Abendvortrag
Moderation: Michel Margue

Gerhard Lubich (Bochum): Dülmen und die Wahrheit. Historiographische Regesten – Herausforderungen und Anforderungen

Sektion IV: Perspektivenwechsel
Moderation: Cristina Andenna

Michel Margue (Luxemburg): Der Kaiser und seine besten Ritter im Epos der Gelübde auf den Vogel. Die Regesta Imperii und der schwierige Gang zwischen Faktum und Konstrukt

Christina Abel (Saarbrücken/Mainz): Wer sieht was im Schlafzimmer des Kaisers? Der Urkundenschreiber als Chronist

Antoine Lazzari (Luxemburg) und Miriam Weiss (Saarbrücken/Mainz): Regesten am Limit. Wenn Urkunden erzählen …

Abschlussdiskussion
Moderation: Miriam Weiss

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